Granau machte Neustadt Dampf
Mehr als acht Jahrzehnte lang wurde in Nietleben Zement hergestellt. Obwohl der im Neustädter Plattenwerk nicht zum Einsatz kam, spielte dieses staubige Kapitel der Industriegeschichte beim Aufbau der Chemiearbeiterstadt eine Schlüsselrolle. Und verhalf der Gegend zu einigen wertvollen Naturrefugien.
„Der Bruchsee war noch 1890 ein 30 Meter hoher Berg“, sagt Frank Scheer. In nur drei Jahrzehnten wurde das einstige Kalksteinmassiv „bis auf den Grund des heutigen Sees abgetragen“, erläutert der Vorsitzende des Nietlebener Heimatvereins, „als Rohstoff für eine nebenan befindliche Zementfabrik“. Einbrechendes Grundwasser und die ebenso unerbittliche Konkurrenz vor der Nase setzten diesem Unternehmen aber 1921 ein Ende.
Seen waren Tagebaue
Besagte Konkurrenz war elf Jahre zuvor von Vertretern mehrerer Banken und der Mitteldeutschen Braunkohleindustrie mit 1.200.000 Reichsmark in Granau gegründet worden: die „Portlandzementwerke Saale AG“. Deren Standort zwischen der Siedlung Neuglück und der heutigen Straßenbahnendstelle ,Soltauer Straße‘ „war klug gewählt“, wie Scheer bescheinigt. „Zum einen gab es etwa 700 Meter entfernt eine zukunftsträchtige Kalkstein-Lagerstätte.“ Dort sollte in den folgenden sechs Jahrzehnten ein bis zu 24 Meter tiefes Tagebauloch entstehen. Der heutige Steinbruchsee südlich der B80, der zur Hälfte wieder verfüllt wurde, lässt dessen frühere Ausmaße erahnen. „Den gewonnenen Rohstoff transportierten die Betreiber per Seilbahn aus der Grube direkt in die Granauer Fabrik“, so der Nietlebener GWG-Mieter.
Den Energiehunger des firmeneigenen Kraftwerks konnte außerdem „für mehr als 20 Jahre die benachbarte Grube Neuglück stillen“, nennt Scheer einen weiteren Standortvorteil, „mit Braunkohle, die über und unter Tage dort gefördert wurde, wo heute der Heidesee zum Baden und Wandern einlädt“. Ein Gleisanschluss an die Halle-Hettstedter-Eisenbahn ermöglichte obendrein den Abtransport des Zements und ab den 1930-er Jahren die Anlieferung von Brennstoff. „Für den Rangierbetrieb wurden aus Brandschutzgründen zwei feuerlose Dampfspeicherlokomotiven angeschafft“, ergänzt Scheer. Die im Volksmund „Bullo“ genannten grünen Riesen pendelten bis in die 1970-er Jahre zwischen Werksgelände und Bahnhof Nietleben am Südufer des Heidesees. Reste der Gleisanlagen sind dort noch immer zu finden.
Prägende Silhouette
„Bei ihrer Einweihung im Januar 1911 war die Industrieanlage an der Eislebener Straße hochmodern“, haben Scheer und seine Vereinskollegen recherchiert. Schon 1912 wurde mit der Inbetriebnahme eines zweiten Brennofens die anfängliche Jahresleistung auf mehr als 100.000 Tonnen verdoppelt. Zahlreiche Erweiterungen und Modernisierungen folgten. „Die rund 50 Meter hohen Schornsteine mit ihren schmutzigen Rauchsäulen prägten ebenso wie die Kühltürme jahrzehntelang das Ortsbild von Nietleben“, berichtet der Kraftwerksingenieur.
Beim Aufbau Halle-Neustadts kam dem inzwischen zum Karsdorfer Zementkombinat gehörenden Betrieb ab 1965 eine Schlüsselrolle zu. Und das, obwohl „der Granauer Zement nicht für Spannbeton verwendet wurde“, wie sich Wolfgang Kirchner erinnert. Der Bau-Ingenieur arbeitete von 1965 an als Montageleiter und später als Qualitätskontrolleur im nahen Plattenwerk, „das hauptsächlich mit Zement aus Karsdorf und Bernburg produzierte“.
Dampf bis zur Erlösung
Die Nietlebener Fabrik lieferte hingegen über eine eigens verlegte Dampfleitung die Wärmeenergie, die das schnelle Abbinden des Betons in den Formen und somit eine wirtschaftliche Fertigung der Bauelemente überhaupt möglich machte. „In fast jedem vor 1978 errichteten Halle-Neustädter Gebäude steckt also auch Nietlebener Geschichte“, stellt Kirchner klar. Darüber hinaus sei Granauer Zement „natürlich zum Verfugen, Mauern oder Verputzen verwendet worden. Es war ein Mangelrohstoff!“
Wie unverzichtbar die Dampflieferungen für den Aufbau von Neustadt waren, zeigte sich 1973, als die Zementproduktion in Granau eingestellt wurde, weil die Anlagen verschlissen, die Kosten zu hoch und die Umweltbelastungen den Anwohnern nicht länger zuzumuten waren. „Obwohl all das auch auf das marode Heizkraftwerk zutraf“, betont Frank Scheer, „musste es noch weitere sechs Jahre Dienst tun“. Womit man das „Museumsstück“ jedoch überforderte: nach einer schweren Havarie 1976 bewahrten nur zwei an der Porphyrstraße provisorisch aufgestellte Dampfloks das Plattenwerk vor wochenlangem Stillstand. Deren beißender Ruß weckte jedoch den Unmut der gerade eingezogenen Bewohner der westlichen Neustadt. Als 1978 endlich ein Ölkraftwerk im Gewerbegebiet die Dampfversorgung des Plattenwerks übernahm, „war das nicht nur für die alten Kessel in Nietleben eine Erlösung“, räumt Wolfgang Kirchner ein.
Werkswohnungen im GWG-Bestand
Von den ursprünglichen Fabrikgebäuden existiert heute nur noch die Direktionsvilla in der Eislebener Straße 42. „Nach dem Abriss der alten Zementanlagen konstruierten, bauten und reparierten 130 der ehemals 240 Mitarbeiter ab 1974 auf dem Grundstück Anlagen für die DDR-Zementindustrie“, erläutert Heimatforscher Scheer. Die vom nunmehrigen „VEB Rationalisierungsmittelbau und Montagen“ errichtete riesige Werkhalle sei erst 2018 abgerissen worden. „Danach entstand hier eine Eigenheimsiedlung.“ Jenseits des einstigen Betriebsgeländes zeugen außerdem vier eher unscheinbare Bauten von der Blütezeit der Zementindustrie in Nietleben: Die ehemaligen Werkswohnungen in der Berghalde 9 und 10 sowie in der Eislebener Straße 46 und 46a. Sie gehören heute zum Bestand der GWG.
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